Freitag, 19. April 2013

Manga-Review: Homunculus

Oder: Das Bild eines Gesichts, kurz vor dem Niesen

Tja. Ich nehme heutzutage nicht mehr viele Mangas in die Hand. Das Thema Mangas im allgemeinen wäre einen eigenen Eintrag wert. Eine der wenigen Ausnahmen der letzten Jahre war für mich die 15-bändige Reihe Homunculus. Dieser Manga ist ziemlich verschieden von dem meisten, was man so sieht. Das fällt schon auf den ersten Blick auf: Die Figuren sind relativ realistisch gezeichnet.
Das erste mal, als ich ihn durchblätterte, legte ich Homunculus weg. Ich gab der Geschichte erst eine Chance, als ich von der Story hörte. Und ich habe es nicht bereut.

Nakoshi , etwa 30, lebt unter Obdachlosen in einen Tokyoter Park. Aber irgendwie gehört er auch nicht wirklich zu den Obdachlosen, trägt einen Anzug und übernachtet in seinem einzigen Besitz, einer kleinen Schrottkarre.
Wie das so ist ohne Arbeit, geht Nakoshi irgendwann das Geld aus. Also nimmt er das Angebot des obskuren Medizinstudenten Ito an, für einige hunderttausend Yen eine Trepanation an sich durchführen zu lassen.

Dabei handelt es sich um einen Eingriff, der in ähnlicher Form schon im Mittelalter durchgeführt wurde: Es wird ein Loch in die Schädeldecke gebohrt.
Zuerst hatte das den Zweck, Wahnsinnige dadurch ruhigzustellen- ein bisschen wie Jack Nicholson am Ende von "Einer flog übers Kuckucksnest".
Dann gab es Leute, die daran glaubten, durch eine Trepanation den sechsten Sinn entwickeln zu können.

Ito als Mann der Wissenschaft will herausfinden, was dran ist an diesem Gerücht und führt die Trepanation an Nakoshi durch.
Dieser hat daraufhin die Fähigkeit, die Psyche der Menschen, ihr "wahres Selbst", zu sehen, wenn er sich das rechte Auge zuhält. Das klingt komisch. Und ist noch viel komischer.

Auf einmal sieht die Welt für Nakoshi nicht nur ziemlich erschreckend aus, sondern befähigt ihn dazu, bei bestimmten Leuten so tief in ihrem Bewusstsein zu graben, dass er tief verdrängte Konflikte und Erfahrungen zutage fördert, dieses Verdrängte ins Bewusstsein holt und so Menschen helfen kann.
Aber darum geht es letztlich nicht in Homunculus. Nakoshi wird dem einen oder anderen im Laufe der Serie helfen, allerdings macht er es sich nicht zur Mission, der Welt Seelenheil zu bringen.
 Nakoshi ist nämlich ein ziemlicher Antiheld, mit einer zu Beginn unklaren Vergangenheit, vielen Geheimnissen und sehr merkwürdigen Angewohnheiten.
In den Anfängsbänden wird Nakoshi dem angehenden Arzt  Ito von seinen Erfahrungen berichten, und darauf wird darüber diskutiert, wie diese Phänomene zustande kommen können.
Ein weiteres Manga-Klischee wird damit umgangen: Es bleibt nicht nur bei einer Spannung verheißenden Prämisse, sondern diese wird auch in einer Weise von den Charakteren reflektiert, wie man sich vorstellen kann, wie man es selbst tun würde.
Daneben lernt man interessante Info´s rund um Trepanation und Psychologie.
Überhaupt ist Homunculus in erster Linie ein  psychologischer Manga. Die bizarren Verformungen, die Nakoshi sieht, haben immer eine Bedeutung.
Und es ist nicht zuviel verraten, wenn ich sage, dass die Homunculi der Anderen auch immer eine Verbindung zu Nakoshi selbst haben.

Im Laufe der Serie wird Nakoshi selbst immer interessanter, so wie der Leser mehr über seine Vergangenheit und Sicht auf die Welt erfährt. Mit Nakoshi wurde einer der tiefsten und zwiespältigsten Charaktere entworfen, die ich je in der Manga-Welt kennengelernt habe.

Die Zeichnungen sind, zumindest was die ersten zwei Drittel der Serie betrifft, durchgehend detailliert. Hier haben wir einen Manga, der ebenso das Klischee umgeht, den halben Band nur mit Nahaufnahmen von Gesichtern zu füllen (wie gesagt, zumindest in den ersten zwei Dritteln). Wobei die Gesichter selbst in tausend Variationen gezeichnet werden. Homunculus ist der einzige Manga, in welchem ich jemanden einen Moment vor dem Niesen gesehen habe.
Die Variation der Darstellungen von Gesichtsausdrücken geht von irrer Euphorie zu tiefster Verzweiflung, mit teilweise reduzierten Linienstil fast karikativ auf den Punkt gebracht. Yamamoto macht sicherlich kalr, was er jeweils ausdrücken will, und wenn er dazu den zeichnerischen Holzhammer auspacken muss.


Der einzige Makel von Homunculus: Die Serie ist einfach zu lang. Damit hat Homunculus die allermeisten Manga-Klischees erfolgreich überwunden, scheitert aber doch an dem Klischee der langgezogenen Erzählweise.
Okay, mit 15 Bänden ist die Langgezogenheit beiweiten nicht mit einem Dragonball oder, *Schluck*, Naruto/One Piece veergleichbar... aber gemessen an dem unvergleichbar hohen Niveu, das die ersten Bände der Serie setzen, ist die übertriebene Länge der einzige Makel, der Homunculus von absoluter Perfektion trennt.
Das erste Drittel der Story ist sehr kompakt erzählt. Tatsächlich ist das Pacing perfekt. Ich hatte mehr Spaß und Höheflüge der Emotionen aller Art beim Lesen als beim Anschauen vieler Filme.
Nach den ersten beiden Bänden Homunculus ist die Welt, in der man lebt, nicht mehr diesselbe.
Das zweite Drittel wird langsamer, ist aber noch zu verschmerzen- nicht zuletzt, weil es einige HAMMER-TWISTS bereithält.
 Aber das letzte Drittel war nur noch Quälerei... Zumindest ist das Ende in befriedigenderwiese irre.

Also, wer Interesse an Mangas, Psychologie, Unterbewusstsein, dem sechsten Sinn, menschlichem Wahnsinn und nicht zuletzt einer gehörigen Portion Kritik an der modernen (japanischen) Gesellschaft hat, sollte unbedingt reinschauen in die beängstigend-bizarre Welt von Homunculus!

Donnerstag, 18. April 2013

Risikogesellschaft 1

Die Risikogesellschaft - Teil 1

Dies ist eine kurze Zusammenfassung des ersten Teils von dem Buch "Risikogesellschaft- Auf dem Weg in eine andere Moderne". Autor ist der Soziologe Ulrich Beck. Die Riskogesellschaft erschien 1986 und gehört zu den bestverkauften Werken der Soziologie. An manchen Aspekten nagte mittlerweile der Zahn der Zeit, aber allgemein ist Beck´s Hauptwerk auch in der heutigen Zeit von einiger Wichtigkeit.
Dafür, dass ich hier und da vom Text abschweifen und meinen eigenen Gedanken folgen werde, entschuldige ich mich im voraus.


Nach Beck gibt es in Deutschland und den anderen Industrienationen einen Paradigmenwechsel von der Mangel- zur Riskogesellschaft.
In Industriegesellschaften, die Anfangs Mangelgesellschaften waren, gilt das Paradigma der Reichtumsverteilung.
Dem steht das Paradigma der Risikoverteilung in der Risikogesellschaft gegenüber.
Es gibt Mangel, der Bedürfnisse schafft. Diese müssen befriedigt werden, weshalb Produkte geschaffen werden. Industrie und Technologie entwickelt sich weiter.
Wenn die Mängel zwar nicht vollends verschwunden sind, aber soweit eingeschränkt wurden, dass in der Gesellschaft genug Zeit übrig bleibt, um über anderes als Produktion nachzudenken, stellt sich ein Bewusstseinswandel auf breiter Basis ein.
Die moderne Gesellschaft produziert mit ihren Gütern auch immer Risiken vielfältiger Form, etwa neue soziale Ungleichheiten, aber vor allem Belastungen für die Umwelt durch Verbreitung von Schadstoffen, die nicht nur Natur und Tieren schaden, sondern auch dem Endkonsumenten Mensch.

Das Paradigma der Risikogesellschaft behandelt, wie Risken wegverteilt, verharmlost, verhindert, dramatisiert oder kanalisiert werden. Das dahinterliegende Ziel ist, den Modernisierungsprozess nicht zu behindern.

Die Modernisierung wird reflexiv. Das heisst, dass man nicht mehr unreflexiv das Wachstum ankurbelt, sondern beginnt zu hinterfragen, welche möglichen Gefahren dieser Prozess generiert. Skeptizismus stellt sich ein.
Die rauchenden Schlote einer Fabrik sind nicht mehr wie zuvor nur das Symbol für eine funktionierende Wirtschaft und der Bereitstellung von Arbeitsplätzen, sondern auch Ausgang für Schadstoffe, die mit dem Regen wieder auf die Erde treffen, ins Grundwasser sickern, von Menschen aufgenommen werden.
Dass man die Schlote dann möglichst hoch baut, damit die Schadstoffe nicht auf die Stadt in der direkten Umgebung niedergehen, ist höchstens eine kurzfristige Lösung des Problems.
Letztlich ist jeder von Risiken betroffen, und auch die Produzenten der Risiken werden letztlich von ihnen eingeholt. Das nennt Beck den Bumerang-Effekt. Dieser Bumerang-Effekt sprengt, da Risiko schichtenunabhängig jeden betrifft, das Klassenschema.

In der sogenannten Dritten Welt herrscht nach wie vor allein das Paradigma der Reichtumsverteilung. Die offensichtliche materielle Not der Bevölkerung wird als Rechtfertigung von mangelhaften Schutzvorkehrungen etwa der Arbeiterschaft benutzt.
Die Abwasser einer Fabrik können da ins Grundwasser fließen, was toleriert wird, wo diese Fabrik doch wichtige Arbeitsplätze verschafft. Arbeitsplätze, die zum Überleben wichtiger sind als sauberes Leitungswasser. Die Verschmutzung und Belastung der Gesundheit wird als notwendiges Opfer gesehen, um den im vergleich wichtigeren Lohn des Wachstums zu genießen.
Die Bevölkerung ist in weiten Kreisen nicht über die sie umgebenden Risiken aufgeklärt. So ist es ein alltäglicher Anblick, in 3.Welt-Ländern Bauern zu sehen, die ohne Schutzkleidung oder Atemmaske literweise giftigen Dünger per Hand über ihre Felder versprühen.

Deutschland heute steht zwischen beiden Gesellschaften, obwohl es viel mehr Risikogesellschaft als Mangelgesellschaft ist.
Das kann man sagen, da es immer noch Mangel in Deutschland gibt, und in gewisser Weise wohl auch immer geben wird. Dabei ist jedoch die Qualität des Mangels von Bedeutung, die sich klar von der in einem Dritte-Welt-Land unterscheidet.
So gibt es in Deutschland keine absolute Armut mehr, die das physische Überleben unmöglich macht.
Als Obdachloser lebt es sich nicht leicht, aber zumindest kann man davon ausgehen, dass man als solcher nicht verhungern wird oder es keinerlei Möglichkeit gibt, zumindest kurzfristig ein Dach über dem Kopf zu finden, sofern das überhaupt angestrebt wird (wer lange auf der Straße lebt, entscheidet sich häufig gegen ein langfristiges Obdach, da dieses als beengend empfunden wird).

Dann unterscheidet sich der neue Riskobegriff vom alten. Risko hat es auch früher gegeben. Dieses war allerdings wahrnehmbar. Etwa der Gestank in Städten, die keine funktionierende Kanalisation hatten.
Ebenso lag das Risiko der Armut auf der Hand, oder, weniger weit zurückliegend und immer noch gültig, das Qualifikationsrisiko, nicht die richtige Ausbildung/Schulbildung zu genießen und danach als Arbeitsloser zu enden.
Die neuen Risiken entziehen sich der unmittelbaren Wahrnehmung. Schadstoffe in der Luft sind unsichtbar. Diese Risken stellen sich nur im Wissen um sie her. Wovon man zuvor nicht wusste, existierte in der eigenen, wahrgenommenen Welt auch nicht. In diesem Sinne geht man in der Riskogesellschaft konstruktivistisch vor.
Existent werden Risiken nur, wenn sie die Diskurslandschaft betreten. Worüber man nicht spricht, existiert nicht. Ebenso kann das Risko nur im Diskurs verändert werden.
In der Riskodefinition spielen die Medien eine Schlüsselrolle.
Im Sinne des investigativen Journalismus werden Skandale der Riskoproduktion aufgedeckt, zumindest idealerweise.
Im Diskurs um Risiken teilen Vertreter der Medien das Feld mit Produzenten, die Experten anheuern, um die Aussagen von Gegenexperten zu entkräften, deren Behauptungen, wenn sie sich als wahr herausstellen, zu einem Schrumpfen oder Umstellen der Produktion führen müssten. Als Akteur ist natürlich auch die Öffentlichkeit zu nennen, deren Meinung das politische und wirtschaftliche Handeln beeinflusst.

Das Problem an etwas, was man nicht wahrnehmen kann, ist, dass man niemals sicher wissen kann, welche Aussagen darüber wahr oder falsch sind. Ein anderer Aspekt von der neuen Art von Risiken ist, dass sie übernational gelten und somit global jeden betreffen. Viel Aufsehen und anschließende politische und wirtschaftliche Maßnahmen zog die Feststellung des Klimawandels und der darauf aufbauenden, für viele besorgnisserregenden Prognosen für die Umwelt, auf sich.
Aber für jene Experten, die sich für eine Reduzierung der CO2-Ausstöße einsetzen, kommen auch Gegenstimmen anderer wissenschaftlicher Experten, die die Umstände verharmlosen und meinen, dass alles nicht so schlimm sei. Es gibt auch von CO2-produzierenden Industrien angestellte PR-Männer, die aktiv gegen die "Panikmache" des angeblich so schlimmen Klimawandels vorgehen.

Es herrscht also ein fortdauernder Kampf um Meinungen, geführt mit dem Instrument der Sprache.
Wer erscheint am glaubwürdigsten? Wer hat die besseren Argumente, die zuverlässigeren Daten?
Dabei gibt es viel Unklarheit. Allgemein herrscht in der modernen Welt ein hohes Vertrauen in wissenschaftlichem Vorgehen. Aber wie wahrheitshaltig kann diese Wissenschaftlichkeit letztlich sein?
Eine beliebige Statistik etwa, mit wissenschaftlichen Methoden erhoben, erklärt sich niemals selbst, sondern kann, je nach Kontext, so oder so interpretiert werden und somit unterschiedliche Aussagen repräsentieren.
Eine andere Gefahr ist, nicht zu wissen, wie Erhebungen überhaupt zustande kamen, welche Methode ihnen zugrunde liegt.
In der Ermessung globaler Armut etwa wird festgestellt, dass weniger Menschen als ein paar Jahre zuvor unter Armut leiden. Die anhängende Interpretation ist, dass unterm Strich alles immer besser wird .
Was zu hinterfragen ist, wo die Grenze zu Armut gezogen wird. An der Kategorisierung zu schrauben bedeutet in dem Fall, Ergebnisse zu beschönigen, indem man die Messlatte, ab wann man global als arm zu gelten hat, niedriger setzt.
Ein anderes Beispiel für die Problematik von zuverlässiger Aussagekraft für große Datenerhebungen ist das BIP, welches wirtschaftliches Wachstum messen soll. In letzer Zeit stand es in der Kritik, nur unzureichende Kategorien einzubinden. Es gibt Vorschläge, zum Messen von Lebensqualität in einem Land nicht nur dessen wirtschaftliches Wachstum zu berücksichtigen, sondern auch Kategorien wie den Stand der Bildung oder Nachhaltigkeit hinzuzuziehen.
Also kann man sich kaum nach Wahrheiten richten, sondern sich nur für Wahrscheinlichkeiten entscheiden.
Wichtig ist, sich immer zu fragen, welches Interesse die Überbringer von Informationen verfolgen, wie sie bei dem Sammeln von Wissen vorgingen, was die Quellen sind, oder für wen sie arbeiten.